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Free the owls – warum seit einer Chronotypenanalyse bei uns alle arbeiten dürfen, wann sie wollen

Manche Menschen sind Frühaufsteher, andere sind nachtaktiv. Da im Alltag meist feste Arbeitszeiträume vorgegeben werden und ein früher Start in den Tag Normalität ist, müssen viele entgegen ihrem Rhythmus leben. Wir haben uns angesehen, wann unser Team gerne schlafen möchte und wann es sich leistungsfähig fühlt. Das morgendliche Stand-Up und den Wochenrückblick am Freitagnachmittag haben wir abgeschafft und lassen nun alle arbeiten (und schlafen), wann sie wollen.

Artikel von:
Eva
Veröffentlicht am:2025-02-24

In diesem Beitrag

Eulen, Lerchen und Tauben

Dass die Schule in Deutschland bezogen auf die Schlafbedürfnisse von Jugendlichen eigentlich zu früh anfängt, hat sicherlich jeder mittlerweile schon einmal gelesen. Worüber jedoch bisher deutlich weniger prominent gesprochen wird ist die Tatsache, dass es auch für einen erheblichen Anteil der arbeitenden Bevölkerung Normalität ist, ins Bett zu gehen, ohne müde zu sein und sich von einem Wecker aus dem Schlaf reißen zu lassen, bevor der Körper wach werden möchte. Dabei ist die Organisation des gesellschaftlichen Alltags fest in der Hand der Lerchen, also jenen, die dem frühen Aufstehen und zeitigen Schlafengehen ganz freiwillig zugeneigt sind. Nicht nur Schüler sitzen morgens gegen acht Uhr bereits in der Schule, auch in vielen Büros, Behörden, Geschäften und Arztpraxen beginnt der Arbeitsalltag früh. Eigentlich überall. Der MDR spricht vor diesem Hintergrund gar von einer „Diktatur der Lerchen“. Dabei zeichnen die Zahlen ein anderes Bild. Zwar unterscheiden sich die konkreten Werte je nach Quelle, aber die Mehrheit der Bevölkerung stellen die Lerchen wohl keinesfalls. So schreibt die Zeit: „Von den Morgen- und Abendtypen gibt es jeweils etwa gleich viele. Das heißt aber auch: 60 Prozent sind in Wahrheit keines von beidem.“, während es beim WDR heißt: „Etwa 30 Prozent der Bevölkerung sind eher Morgenmenschen (Lerchen), 40 Prozent eher Abendtypen (Eulen). Die zwischen diesen beiden liegenden 'Normaltypen' bezeichnen Forschende in der Chronobiologie als Tauben.“

Eine Frage der Übung?

Die Behauptung, es wäre eine Frage von Disziplin, sich den frühen Rhythmus anzugewöhnen, hält sich hartnäckig. Wer von acht bis 16 Uhr arbeitet, gilt oft als organisiert und fleißig, wer hingegen von 14 bis 22 Uhr arbeitet, als undiszipliniert und faul. Dabei ergeben beide Zeiträume in der Summe acht Stunden. Margarete Stokowski nennt das im Spiegel „die dümmste Ideologie unserer Zeit“ und spricht von einer „Fetischisierung des frühen Aufstehens“. Mehrere Faktoren bestimmen maßgeblich über die eigene innere Uhr, dazu zählen die Gene, die Verfügbarkeit von Licht sowie Alter und Geschlecht. Für unsere eng mit der Natur lebenden Vorfahren hatte eine Population, die aus verschiedenen Chronotypen (also Lerchen, Eulen und sonstigen Typen) besteht, eventuell den Vorteil, dass Mitglieder einer Gruppe nicht gleichzeitig schliefen und somit immer jemand wach war und aufpasste. Ob sich der individuelle Rhythmus nun nachhaltig verändern lässt, ist fraglich. So schreibt zum Beispiel die AOK: „Es gibt nur einen Weg, die innere Uhr zumindest ein wenig zu verstellen. Denn neben den Genen ist das Licht der wichtigste Faktor für unseren Rhythmus. Licht beeinflusst Aktivität und Müdigkeit. Viel lässt sich an den Chronotypen aber nicht verändern – aus einer Eule wird auch durch mehr Licht keine Lerche." Beobachten kann man das mit dem Licht im Campingurlaub, in dem sich die Schlafgewohnheiten von Menschen in Ermangelung von Lichtquellen angleichen. Gleichzeitig ist da eben noch die Sache mit den angeborenen und biologischen Faktoren.

Als bekennende Eule kann ich bestätigen, dass eine Umstellung schwer ist. Ich kann mich zwar zwingen, meine Schlafgewohnheiten anzupassen, das funktioniert aber nicht immer und glücklich macht mich das nicht. Am Wochenende und im Urlaub dauert es meist nur zwei Tage, bis sich mein Wohlfühlrhythmus wieder einstellt. Beim Campen gehe ich zwar manchmal etwas früher ins Bett und stehe ein wenig früher auf – aber auch nicht immer, denn auch hier meldet sich mein Rhythmus zu Wort. „Viele Eulen werden hingegen gezwungen, gegen ihre innere Uhr zu leben. Das bedeutet für Betroffene bleierne Müdigkeit am Tage und schlechte Stimmung. Sie leben in einem dauerhaften "sozialen Jetlag", da sich ihre Schlafzeiten in der Woche stark von denen am Wochenende unterscheiden. Das permanente Leben gegen die innere Uhr kann zu psychischen Problemen, ungesunden Angewohnheiten wie Alkoholkonsum oder Rauchen, Stoffwechselstörungen und Krankheiten wie Diabetes führen. Zudem erhöht es einer Studie zufolge auch das Sterberisiko.“, schreibt N-TV. Ich denke, für eine Lerche wäre es ähnlich schwierig, noch um 23 Uhr beim Sport zu sein oder sich zu zwingen, bis zwölf Uhr mittags zu schlafen. Sie hat aber wohl den Vorteil, dass niemand eine Anpassung ihrer Schlafgewohnheiten fordert, sofern sie nicht gerade irgendwo im Schichtsystem arbeitet. Am einfachsten wäre es doch, wenn jeder seinen Rhythmus so leben könnte, wie es sich am besten anfühlt. Man kann allerdings davon ausgehen: Selbst wenn zwingende Umstände (wie die Notwendigkeit von Schichtdiensten) keine Rolle spielen würden, wird es für die meisten Arbeitnehmer wohl aufgrund von Konventionen, Vorurteilen und Sorgen um die Machbarkeit eine Utopie bleiben, sich ihre Arbeitszeiträume selbst auszusuchen. Dabei hätten zufriedene und ausgeschlafene Arbeitnehmer und Führungskräfte für alle Vorteile.

Ornithologie mal anders

Als wir uns 2021 mittels einer Teamumfrage angesehen haben, wie die verschiedenen Chronotypen bei uns verteilt sind, zeigte sich, wie erwartet, ein diverses Bild. Wir stellten die Frage: „Wenn es nur nach deinem Wohlbefinden geht und du frei von jeglicher Verpflichtung wärst, um wie viel Uhr würdest du ins Bett gehen und um wie viel Uhr aufstehen?“ (Abb. 1). Sechs von zehn Teammitgliedern beantworteten sie so, dass sie am liebsten ab neun Uhr morgens aufstehen. Der früheste Vogel gab an, um sechs Uhr aufstehen zu wollen, die späteste Eule um zwölf. Vier Teammitglieder wollten nach Mitternacht schlafen gehen. Müssten wir um acht Uhr morgens in einem externen Büro sitzen, würde das vermutlich nur für eine Person gut funktionieren. Eine zusätzliche Auswertung durch den Fragebogen zum Chronotyp (D-MEQ) der TU Dortmund erfasste in unserem Team vier „neutrale Typen“, zwei „moderate Abendtypen“ und zwei „definitive Abendtypen“.

Eine Infografik die zeigt, welche Ruheperiode jedes Teammitglied präferiert.
Abb. 1 Jeder Balken gibt die von je einem Teammitglied gewünschte Schlaf- bzw. Ruheperiode an. Vier Teammitglieder möchten nach Mitternacht ins Bett gehen, drei Teammitglieder bis acht Uhr morgens aufstehen, sechs Teammitglieder ab neun Uhr morgens. Größte Differenz: Gewünschtes Aufstehen um 6 Uhr morgens vs. 12 Uhr mittags. Antworten die eine Spanne angaben, wurden für die Auswertung gemittelt.

Das aus diesen Angaben abgeleitete Schlafbedürfnis der Teammitglieder lag zwischen 8 und 10,5 Stunden pro Nacht, der tatsächlich erhaltene Schlaf an einem Arbeitstag laut Selbstauskunft ("Was würdest du sagen, wie viele Stunden du normalerweise vor einem Arbeitstag schläfst?") zwischen 6 und 9 Stunden. Die Antworten deuteten darauf hin, dass viele unter der Woche nicht so viel Schlaf bekamen, wie sie eigentlich brauchen. Die Diskrepanz könnte aber auch dadurch zustande kommen, dass bei den in Abb. 1 dargestellten Zeiträumen Ruhezeiten mit einbezogen wurden, in denen kein Schlaf stattfindet.

Die Frage: „Was würdest du sagen, um wie viel Uhr bzw. in welcher/n Zeitspanne(n) du geistig am leistungsfähigsten bist?“, beantworteten viele im Team mit der Nennung einer Periode, die irgendwo zwischen acht und 13 Uhr lag. Es gab aber auch drei Teammitglieder, die den Beginn ihrer frühesten, leistungsfähigsten Phase nach zwölf Uhr definierten, zwei davon sogar erst nach 17 Uhr und somit zu einer Zeit, zu der in Deutschland normalerweise Feierabend gemacht wird. Im Extremfall zog sich die leistungsfähige Periode laut Selbstauskunft bis zwei Uhr nachts (Abb. 2). In Einzelfällen gaben die Befragten unkonkrete Werte an (z. B. "mittags"). Hier wurden für die Auswertung Annahmen bezüglich des konkreten Zeitraums getroffen.

Eine Infografik, die für jedes Teammitglied die leistungsfähigsten Phasen am Tag visualisiert
Abb. 2 Die dicken Balken entsprechen der Darstellung in Abb. 1. Die dünnen Balken visualisieren zusätzlich die per Selbstauskunft angegebenen, leistungsfähigsten Phasen für jedes Teammitglied. Die senkrechte Linie markiert zwölf Uhr. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt endet bei vielen eine leistungsfähige Phase, für eine Person beginnt sie. Bei Angabe von unkonkreten Zeiträumen wurden für die Auswertung Annahmen getroffen. 

Dann schaffen wir eben das Daily Standup ab

Uns war spätestens mit Blick auf die Daten klar, dass wir etwas ändern wollten. Nicht nur für jedes einzelne Teammitglied, auch aus Firmensicht klingt es wenig sinnvoll, Menschen in Perioden zum Arbeiten zu zwingen, in denen sie sich selbst als leistungsschwach einschätzen. Und wir wollten kein übermüdetes, sondern ein erholtes Team sein. Es gab zwar ein paar Bedenken, was das hinsichtlich der Verfügbarkeit gegenüber Kunden oder in der Kommunikation untereinander bedeutet („Wenn alle unterschiedliche Arbeitszeiten haben, wie funktionieren dann Absprachen im Team?“), wir sind aber große Fans davon, Dinge in einem Experimentierzeitraum einfach mal auszuprobieren. So ein Experiment ermöglicht es, unterwegs zu schauen, ob es funktioniert, ob man Anpassungen vornehmen muss oder ob das Experiment gar gescheitert ist.

Zum Zeitpunkt der Umfrage hatten wir ein tägliches Standup-Meeting (bzw. montags eine Wochenplanung) um 09:45 Uhr, also zu einer Zeit, zu der einige noch schlafen wollten und andere vielleicht gerade erst aufgestanden waren. Am anderen Ende des Spektrums hatten wir einen Wochenrückblick, der freitags um 14:30 Uhr stattfand. Das war manchen im Team eigentlich zu spät und sie berichteten von Schwierigkeiten, sich am Nachmittag noch auf ein Meeting zu konzentrieren. Auf der Suche nach dem Slot, an dem alle möglichst schmerzfrei zusammenkommen können, warfen wir einen Blick auf die vom Team gewünschten Wachzeiten (Abb. 1), die leistungsstarken Zeiträume (Abb. 2) und auch auf die separat abgefragten Wunsch-Arbeitszeiten (nicht gezeigt, da viele Antworten keine konkreten Zeiträume nannten). Auf Basis dessen legten wir zwölf Uhr mittags als neue, tägliche Meetingzeit fest. Um diese Uhrzeit wollte niemand mehr schlafen. Die „Frühschicht“ bemerkte außerdem um die Mittagszeit einen Leistungsabfall und ein einsetzendes Bedürfnis nach Mittagessen. Das konzentrierte Arbeiten an einer Aufgabe wird ungefähr zu diesem Zeitpunkt also vermutlich sowieso beendet, womit wir weniger Gefahr laufen, Fokusphasen mit einem ungünstig gelegenen Meeting zu unterbrechen. Die „Spätschicht“ wollte so um den Dreh die Arbeit aufnehmen und konnte im Idealfall teilnehmen, bevor die Fokussierung auf eine Aufgabe begann.

Wie die Umstellung funktioniert hat

Es gab eine Phase, in der manche im Team das morgendliche Anknüpfen mit den anderen vermissten und sich auf freiwilliger Basis in einer Videokonferenz zum Stand-Up verabredeten. Eine Weile gab es als Alternative auch einen Chatraum, in dem zum individuellen Tagesbeginn ein schriftliches Stand-Up Meeting stattfinden konnte. Beide Modelle sind aber irgendwann ganz von alleine ausgelaufen und heute gibt es nur noch die Mittagsmeetings. Da sie keine Pflichtveranstaltung sind, stellt es auch kein Problem dar, wenn jemand an einem Tag andere Arbeitszeiten leben will. In der Realität sind Montags und Freitags (an diesen Tagen sind die Inhalte der Meetings etwas anders als Dienstag bis Donnerstag) alle anwesend – an den anderen Tagen gestaltet sich die Anwesenheit ganz unterschiedlich. Die Kommunikation untereinander oder mit Kunden hat sich als unproblematisch herausgestellt. Der Erfolg eines Modells ohne feste Arbeitszeiträume ist vermutlich auch abhängig von der Firmenkultur und dem Miteinander. In der webfactory fühlt sich jeder (mit)verantwortlich, die Zufriedenheit und das Zugehörigkeitsgefühl zur Firma ist hoch. Entsprechend ist es selbstverständlich, dass man natürlich auch mal zu Zeiten arbeitet, die individuell nicht ganz perfekt sind, wenn zum Beispiel ein Termin mit Kunden oder mit Kolleg*innen ansteht. Darüber hinaus kommunizieren wir sowieso so viel wie möglich schriftlich und asynchron, was bei einem Modell ohne Kernarbeitszeiten sicherlich von Vorteil ist. Und wenn man weiß, dass eine direkte Abstimmung im Team nötig ist oder man von jemandem gebraucht wird, dann kommt auch die euligste Eule nicht erst am späten Nachmittag an den Schreibtisch. Generell überschneiden wir uns sowieso noch relativ viel. Zwischen zwölf und 17 Uhr kann man eigentlich jeden im Team erreichen – wenn vielleicht auch nicht sofort, denn die Auflösung der Arbeitszeiten (sicherlich auch in Kombination mit der Einführung der 30-Stunden-Woche) hat bei vielen zu einem flexibleren Einschieben von privaten Terminen und bei einzelnen zu individuellen Anpassungen, wie einer extra langen Mittagspause, geführt. Insgesamt dürften wir regelmäßig eine Zeitspanne zwischen 09:30 Uhr und 19 Uhr abdecken, in der irgendjemand anwesend und für Kunden ansprechbar ist. Oft auch noch längere Zeiträume. Das ist somit deutlich mehr, als wenn wir alle dieselben sechs Stunden des Tages anwesend wäre. Es ist auf jeden Fall gut, dass es Personen im Team gibt, die vormittags arbeiten wollen. Für viele unserer Kunden beginnt der Arbeitstag zu klassischen Arbeitszeiten und es wird sicherlich erwartet, dass man uns vormittags erreichen kann. Wäre das nicht der Fall, hätte man hier vermutlich eine Lösung finden müssen. Auf der anderen Seite melden sich insbesondere unsere Theaterkunden aufgrund ihrer persönlichen Arbeitsabläufe häufig erst am späten Nachmittag und es wäre suboptimal, wenn dann niemand mehr da wäre. Die natürliche Verteilung der Arbeitszeiten im Team ist also durchaus von Vorteil.

Insgesamt lässt sich sagen, dass uns die Umstellung ziemlich mühelos gelungen ist. Wir sind mit dem Ergebnis sehr zufrieden und sehen viele Vorteile für jeden Einzelnen und die Firma im Gesamten. Auch der Chronobiologe Professor Achim Kramer von der Charité Berlin empfiehlt im Interview mit N-TV: „‚Man sollte versuchen, die unterschiedlichen Chronotypen der Belegschaft zu kennen und dann die Schichtpläne so zu machen, dass die Belastungen möglichst gering sind‘ Dies bedeute, dass Eulen häufiger in Spätschichten und Lerchen öfter in Frühschichten eingesetzt werden sollten. Zudem ließen sich viele Berufsunfälle sowie diverse Fehler im Job durch unkonzentriertes Arbeiten dank Berücksichtigung der biologischen Uhr vermeiden.“ Wir empfehlen, vielleicht einfach mal eine eigene Umfrage zu starten und in einem Experiment zu testen, was passiert, wenn ein Team ohne feste Arbeitszeiträume agiert. Wenn es dann doch schiefgeht, dann hat man immerhin was gelernt und vielleicht wenigstens für ein paar Tage ausgeschlafene Kolleg*innen.

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